Geschichte der Vitiligo

Der gesellschaftliche Umgang mit Krankheit, mit andersaussehenden und scheinbar unerklärlichen Veränderungen im Erscheinungsbild ist nicht nur eine Quelle historischer Erkenntnis, sondern erlaubt auch einen Einblick in die Entstehungsgeschichte heutiger Haltungen. Dass man seine «natürliche» Hautfarbe einfach so verlieren kann, stellt bereits in den ältesten uns bekannten Texten zur Medizin und Heilkunst eine Herausforderung dar, und zwar nicht nur für das Heilungsvermögen des Arztes, sondern auch für das gesellschaftliche Selbstbild und die eigene soziale Identität.


Krankheiten wie Vitiligo waren seit Jahrtausenden bekannt
Bereits vor über 3500 Jahren wurden erstmals Krankheiten beschrieben, deren Symptome mit der Vitiligo übereinstimmen. So unterschied der Autor des ägyptischen «Ebers Papyrus» (medizinischer Papyrus) bereits zwischen Vitiligo und Lepra, ebenso wie indische und japanische Dokumente. Gemäss einem vedischen Mythos aus dem alten Indien soll die göttliche Personifizierung der Sonne Vitiligo bekommen haben, nachdem sie von ihrem illegitimen Sohn zu lange angestarrt wurde. Um 100 vor Christus beinhalten ayurvedische Lehrbücher dann den Begriff «Svitra» (weiss) als Diagnose. Im antiken Griechenland unterschied Hippokrates um 400 vor Christus allerdings nicht zwischen Vitiligo und Lepra. Immerhin erkannte er aber bereits, dass die Krankheit im Anfangsstadium leichter zu behandeln ist – eine Tatsache, die bis heute von medizinischer Bedeutung ist.

 

Aus dem alten Indien sowie aus Ägypten stammen ebenfalls erste Aufzeichnungen zur Behandlung von Vitiligo mit psoralenhaltigen Pflanzen (sekundärer Pflanzenstoff, sensibilisiert die Haut für Sonnenlicht und UV-Strahlung). Gleichzeitig nahm jedoch auch die Stigmatisierung der Vitiligo zu, die das Schicksal der Betroffenen in vielen Regionen über Jahrhunderte prägen sollte. In manchen Schriften wird Vitiligo als Strafe für eine Sünde gegen religiöse Gesetze oder Anführer interpretiert. Zudem führte die Unfähigkeit, zwischen Vitiligo und Lepra unterscheiden zu können, oft zur Ausgrenzung der Betroffenen. Auch im europäischen Mittelalter wurden Menschen mit Vitiligo gemeinhin zu «Aussätzigen» degradiert.


Herkunft des Begriffs
Das Wort Vitiligo selbst stammt womöglich aus der klassischen europäischen Antike. Einige führen das Wort auf den Arzt Celsus und sein im 1. Jahrhundert vor Christus verfasstes Werk «De Medicina» zurück. Der Begriff könnte aber auch vom lateinischen «vitelius» für «das weisse Fleisch von Kälbern» abstammen oder vom Wort «vitium» (Mangel) oder «vitulum» (kleiner Mangel). Im 16. Jahrhundert erschien in Europa das erste wissenschaftliche Werk, das sich detailliert mit verschiedenen Hautkrankheiten befasste. Sein Autor, der italienische Philologe und Arzt Mercurialis, wurde damit zum ersten Europäer, der zwischen verschiedenen Depigmentierungs-Krankheiten zu unterscheiden versuchte.


Ungefähr zur selben Zeit erkannte man auch, dass die Haut aus verschiedenen Schichten besteht und ihre Färbung von bestimmten Gewebestoffen abhängig sein muss. Es dauerte aber noch bis 1819, bis dem Italiener Giosuè Sangiovanni die Beschreibung von Melanozyten gelang (Chromatophoren). Gegen Ende des 19. Jahrhunderts war dann auch der Pigmentmangel bei Vitiligo belegt, und der Einfluss von Stress auf die Entstehung der Krankheit wurde beschrieben. Zusätzlich gelang es Niels Ryberg Finsen, Geräte herzustellen, die Licht in bestimmten Wellenlängen abgeben. So konnten die lange bekannten Effekte des Sonnenlichts gezielt und mit weniger Risiken für die Betroffenen genutzt werden. Für diese Errungenschaft erhielt Finsen 1903 auch den Nobelpreis für Medizin.


Im 20. Jahrhundert wurde das Wissen um die Entstehung des Pigmentstoffs Melanin stets erweitert und vertieft: Das Enzym «Tyrosinase», welches die Melaninproduktion reguliert, wurde 1917 entdeckt. Die familiäre Häufung von Vitiligo wurde in den 1940er Jahren bemerkt und markierte den Beginn eines Forschungsgebiets, das mit den heutigen Möglichkeiten der Genanalyse in seiner Komplexität und Vielfalt geradezu explodiert. Während also die wissenschaftliche Geschichte der Vitiligo im letzten Jahrhundert im Eiltempo fortgeschritten ist, hinkt die soziale Entwicklung hin zur Anerkennung statt Diskriminierung von Betroffenen bis heute hinterher.


Zwei historische Fallstudien
Ein koreanisches Gemälde aus dem 17. Jahrhundert zeigt einen hohen Staatsbeamten mit eindeutigen Vitiligo-Symptomen im Gesicht und am Hals. Diese Offenheit in der Darstellung von Vitiligo legt die Vermutung nahe, dass die Koreaner zu dieser Zeit wohl zwischen Vitiligo und Lepra zu unterscheiden wussten und es bekannt war, dass Vitiligo keine Ansteckungsgefahr birgt. Offenheit und Akzeptanz sind also kein historisches Privileg unserer Zeit, sondern lassen sich bei aller Ausgrenzung auch in der Geschichte immer wieder finden.


Besser dokumentiert und sozialhistorisch komplexer ist dagegen der Fall von Henry Moss, einem dunkelhäutigen Mann, der 1796 in Philadelphia und anderen Städten der noch jungen USA zu einer wahren Sensation wurde. Plakate kündigten ein «grosses Kuriosum» an, das man gegen eine Gebühr in Tavernen betrachten konnte: Ein dunkelhäutiger Mann hatte seine Hautfarbe verloren und war nun «so weiss wie irgendein weisser Mensch». Die Bekanntheit des Falles reichte bis in die Zeitungen und gelehrten Schriften der damaligen Zeit. Die Gesellschaft einer Nation, in der Menschen mit schwarzer Hautfarbe vielerorts als intrinsisch minderwertig betrachtet wurden, sah sich plötzlich mit der buchstäblichen Oberflächlichkeit einer vermeintlichen «Rassenidentität» konfrontiert. Die Interpretation von Benjamin Rush, Arzt und Mitunterzeichner der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung, liest sich allerdings aus heutiger Sicht sehr ungemütlich: ‹Henry Moss sei der Beweis, dass dunkle Haut eine Form von Lepra sei. Gelänge es, diese in allen «Betroffenen» zu «heilen», so könne man «eine grosse Portion Glück» in der Welt erschaffen.

 

Der Fall von Henry Moss zeigt gleichzeitig viele zentrale Elemente des «Phänomens» Vitiligo in der Geschichte: Dazu gehören profane Schaulust, wissenschaftliches Interesse, der Umgang des betroffenen Individuums mit der Krankheit in einem bestimmten sozialen Umfeld, die Projektion und Verallgemeinerung vorgefertigter Stereotypen und (ab)wertender Urteile ebenso wie die Erkenntnis der wesentlichen Gleichheit der Menschen in der Anfälligkeit für Krankheiten und die daraus entstehende Herausforderung für ein Selbst- und Gesellschaftsbild.

 

Quellen: Craiglow, B.G.: «Vitiligo in Early American History: The Case of Henry Moss» Arch Derm. 144(9), 2008:1242.Millington, G.W.M. & Levell, N.J.: «Vitiligo: the historical curse of depigmentation» Int J of Derm. 46, 2007: 990-995.